Energiehandelsgeschäfte der Wien Energie: Systemische Schwächen im Management des Liquiditätsrisikos

19. Juli 2024 – Aufsichtsrat fachlich ausgewogen besetzen

Um stabile und planbare Geschäftsergebnisse und Kundentarife zu erzielen sowie die Versorgungssicherheit nicht zu gefährden, sicherte die Wien Energie die Preise ihrer Strom- und Gasgeschäfte im Voraus am Terminmarkt ab. Ab Herbst 2021 verlagerte sie den langfristigen Energiehandel großteils an die Börse. Bei der Absicherung an Energiebörsen sind Sicherheitsleistungen zu hinterlegen, deren Höhe von der Preisentwicklung im Großhandel abhängt. Infolge des extremen Preisanstiegs bei Strom und Gas am 26. August 2022 konnte die Wien Energie die fälligen Sicherheitsleistungen von rund 1,8 Milliarden Euro nur mit Unterstützung der Stadt Wien in Höhe von 1,4 Milliarden Euro zahlen.

Der Rechnungshof stellt in seinem heute veröffentlichten Bericht „Wien Energie GmbH: Energiehandelsgeschäfte“ fest: Im Liquiditätsrisikomanagement gab es systemische Schwächen in der Risikobewertung, -begrenzung,-steuerung und-berichterstattung. Nach dem 26. August 2022 änderte die Wien Energie ihre Absicherungsstrategie und reduzierte das Liquiditätsrisiko. Defizite gab es auch in der Organisation und im Zusammenwirken der Wien Energie und der Wiener Stadtwerke: Die Wiener Stadtwerke stellten Finanzierungen für den Börsenhandel bereit, ohne von der Geschäftsführung der Wien Energie Alternativen einzufordern und finanzielle Limite festzulegen. Außerdem: Der Aufsichtsrat der Wien Energie nahm seine Überwachungsfunktion im Hinblick auf das Liquiditätsrisiko nicht umfassend wahr und intensivierte seine Tätigkeit in einer kritischen Phase nicht. Der überprüfte Zeitraum umfasste die Jahre 2017 bis 2022. Die Prüfung ergab keine Hinweise auf den Abschluss spekulativer Handelsgeschäfte.

Liquiditätsbedarf erst zwei Tage vor Fälligkeit offengelegt

Ab Herbst 2021 führten Verwerfungen am Strom- und Gasmarkt, vor allem wegen der Unsicherheit über die Verfügbarkeit von russischem Gas, zu einem massiven Anstieg der Großhandelspreise. Sie erreichten am Strommarkt im August 2022 mit 1.015 Euro pro Megawattstunde ihren Höchststand – eine Steigerung von 810 Prozent seit Jänner 2022. Zahlreiche europäische Energieversorger gerieten in Liquiditätsengpässe, weil sie für Börsengeschäfte zusätzliche Sicherheitsleistungen hinterlegen mussten.

Die Wien Energie ist eine 100 Prozent-Tochter der Wiener Stadtwerke und damit im Eigentum der Stadt Wien. Für das Liquiditätsmanagement beziehungsweise die Bereitstellung von Liquidität für die Wien Energie sind die Wiener Stadtwerke zuständig. Die Wiener Stadtwerke und die Stadt Wien bemühten sich nach eigenen Angaben um einen bundesweiten Rettungsschirm. Bis 26. August 2022 trugen sie ihr Anliegen aber nicht direkt an die zuständigen Stellen – Finanzministerium, Klimaschutzministerium oder die E-Control – heran. Erst kurzfristig, am Samstag, den 27. August – zwei Tage vor Fälligkeit von rund 1,8 Milliarden Euro –, informierten die Wiener Stadtwerke das Finanzministerium über den Liquiditätsbedarf. Der Bund, vertreten durch die Österreichische Bundesfinanzierungsagentur, stellte ein Darlehen von bis zu zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Dieses nahm die Wien Energie jedoch nicht in Anspruch. Die rund 1,8 Milliarden Euro finanzierten die Wiener Stadtwerke beziehungsweise die Wien Energie unter anderem mit Krediten der Stadt Wien in Höhe von 1,4 Milliarden Euro.

Bereits am 15. Juli 2022 schuf der Wiener Bürgermeister per Notkompetenz die Voraussetzung für den Abruf von bis zu 700 Millionen Euro. Für den Rechnungshof ist grundsätzlich nachvollziehbar, dass die Wiener Stadtwerke angesichts der Unsicherheit auf den Energiemärkten eine Liquiditätsreserve für weitere Sicherheitszahlungen der Wien Energie aufbauen mussten. Allerdings erachtet der Rechnungshof die Ausführungen im Bericht der zuständigen Magistratsabteilung als nicht ausreichend, um die Höhe des beantragten Kreditrahmens und dessen Finanzierung durch die Stadt Wien hinreichend beurteilen zu können.

Defizite bei Steuerung und Überwachung des Liquiditätsrisikos

Für den Rechnungshof ergab sich bei der Wien Energie im Vorfeld des 26. August folgendes Bild: Die Geschäftsführung der Wien Energie entwickelte trotz zugespitzter Marktlage ab dem Frühjahr 2022 keine Alternativen, um das Liquiditätsrisiko des Börsenhandels zu reduzieren und das Risiko breiter zu streuen. Das hätte aus Sicht des Rechnungshofes erfolgen müssen, da ein hohes Liquiditätsrisiko den Bestand des Unternehmens und auch die Versorgung mit Strom, Gas und Wärme gefährdete. Das Risikomanagement der Wien Energie führte das Liquiditätsrisiko in den Berichten nicht unter den „Top 5 Risiken“, obwohl es ab Herbst 2021 laufend anstieg und letztlich eine existenzbedrohende Dimension erreichte. Im Jahr 2022 setzte die Geschäftsführung von Jänner bis November keine Sitzungen des Risikokomitees an. Dadurch nutzte sie während der zunehmend volatilen Lage ein bestehendes Gremium zur Risikosteuerung nicht.

Auch hinterfragte die Geschäftsführung der Wiener Stadtwerke weder die Risikostrategie auf notwendige Anpassungen noch setzte sie der Wien Energie finanzielle Limite für den Börsenhandel. Das, obwohl die Stadtwerke die Finanzierung der Sicherheiten für den Börsenhandel der Wien Energie bereitstellten.

Der Aufsichtsrat der Wien Energie wiederum nahm seine Überwachungsfunktion mit Blick auf das Liquiditätsrisiko nicht umfassend wahr. Er verstärkte seine Tätigkeit in einer kritischen Phase nicht. Nach Ansicht des Rechnungshofes hätten eine engmaschigere Überwachung und kritisches Nachfragen die Geschäftsführung veranlassen können, das Risikomanagement zu stärken und Alternativen zu entwickeln.

Weiters: Der Aufsichtsrat der Wiener Stadtwerke fasste im Zeitraum von Dezember 2021 bis August 2022 vier Beschlüsse über die Aufnahme von Fremdmitteln in Höhe von bis zu 8,4 Milliarden Euro, um Sicherheitsleistungen der Wien Energie zu finanzieren. Drei der Beschlüsse, die sukzessive steigende Finanzierungsbeträge zum Gegenstand hatten, erfolgten – bei steigendem Risiko – nicht in Aufsichtsrats- sitzungen. Der Aufsichtsrat der Wiener Stadtwerke und sein Prüfungsausschuss hinterfragten die finanziellen Risiken des Energiehandels für den Wiener Stadtwerke Konzern nicht. Die Wien Energie hatte keinen Prüfungsausschuss eingerichtet. Der Rechnungshof empfiehlt deshalb einen solchen. Nach dem 26. August 2022 setzte die Wien Energie eine Reihe von Maßnahmen, um das Liquiditätsrisikomanagement zu verbessern und das Liquiditätsrisiko zu reduzieren.

Fachlich ausgewogene Besetzung des Aufsichtsorgans erforderlich

In Hinblick auf den Aufsichtsrat der Wien Energie empfiehlt der Rechnungshof: Die Stadt Wien und die Wiener Stadtwerke sollen auf eine fachlich ausgewogene Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Wien Energie achten. Künftig sollten unter anderem auch Personen, die eine institutionelle Außensicht und unternehmerische Expertise in der Energiewirtschaft einbringen, in Betracht gezogen werden. Denn die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Wien Energie ließ darauf schließen, dass de facto vor allem die institutionelle Nähe zur Stadt Wien und ihren Unternehmen ein maßgebliches Kriterium für die Besetzung war. Der Rechnungshof weist kritisch darauf hin, dass das Auswahlverfahren für die Nominierung von Aufsichtsratsmitgliedern der Wien Energie nicht im Rahmen eines transparenten Prozesses erfolgte.

Presseinformation: Wien Energie GmbH: Energiehandelsgeschäfte

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Umfang: 
136 Seiten

Bericht: Wien Energie GmbH: Energiehandelsgeschäfte

Der Rechnungshof überprüfte von Oktober 2022 bis März 2023 die Energiehandelsgeschäfte, das dazugehörige Risikomanagement der WIEN ENERGIE GmbH sowie Aspekte der Public Corporate Governance in Anbetracht der Liquiditätskrise des Unternehmens im August 2022. Prüfungsziele waren die Darstellung und Beurteilung der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen, des langfristigen Energiegroßhandels der WIEN ENERGIE GmbH am Terminmarkt, der Finanzierung von Sicherheitsleistungen für Börsengeschäfte, der Steuerung und Überwachung von Risiken im Energiehandel, der Wahrnehmung der Eigentümerrolle durch die Stadt Wien gegenüber der WIENER STADTWERKE GmbH und der WIEN ENERGIE GmbH, der Erkenntnisse der WIEN ENERGIE GmbH aus der Liquiditätskrise vom August 2022 und des energiewirtschaftlichen Risikomanagements der EVN AG und der VERBUND Energy4Business GmbH im Zusammenhang mit der Preisentwicklung im Energiegroßhandel ab dem Jahr 2021. Der überprüfte Zeitraum umfasste im Wesentlichen die Jahre 2017 bis 2022.

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